in: Draw #6 Thomas Müller. Herausgegeben von Nora Schattauer, Revolver Publishing, Berlin, 2012

Zeichnung beginnt, wenn wir auf etwas zeigen, etwas herausheben, unterscheiden. Wir trennen es vom Rest. Die Markierung bleibt in der Spannung zum leeren Raum der Oberfläche: dort das unmarkierte, unvermessene Kontinuum des Grundes, hier das Zeichen, die Energie der Linie, die den Grund aktiviert.

Etwas wird abgetrennt und in Beziehung gesetzt, durch Berührung. Linien teilen, Linien verbinden. Vielleicht vermögen die besten Linien beides zugleich.

Indem etwas geschieden und etwas verbunden wird, entsteht eine Struktur. Bewegungen, die zwischen sich widersprechenden oder sich ergänzenden Polen oszillieren, öffnen einen Raum, den offenen Raum der Zeichnung, den Raum, in den hinein gearbeitet werden kann. So schafft sich die Zeichnung ihre eigenen Voraussetzungen (aber nicht ihre Ziele). 

Jede neue Zeichnung stellt her, was fehlt, jede Zeichnung ein Knoten, der das Gewebe erweitert und stabilisiert. Meine Arbeit wächst durch Wiederholung und durch Abweichung. Es entsteht ein ständig sich veränderndes Netzwerk von Bezügen. 

Zeichnung entspricht der Beweglichkeit von Gedanken, die sich in verschiedene Richtungen ausbreiten. So wächst das Corpus meiner Blätter rhizomatisch nach verschiedenen Seiten gleichzeitig, unterschiedliche, ja widersprüchliche Gedanken und Impulse miteinander verknüpfend. 

In der Zeichnung wird das Denken körperlich und unmittelbar. Das Zögern gehört unbedingt dazu, das Unreine und das Fragmentarische - und die Hoffnung, dass die Dinge sich gegenseitig erklären mögen.

© Thomas Müller