in: Thomas Müller: Dreißig Zeichnungen. Stefan Gronert: Offen werdend, Radius Verlag, Stuttgart 2000

Ein geschriebenes Wort oder - noch einfacher - ein Strich auf einem Blatt Papier stellen immer schon eine Setzung dar. Mögen sie auch noch so zittrig gesetzt sein, Zweifel veranschaulichen, so verkörpern die Linie oder der Strich doch unvermeidlich einen entschiedenen Eingriff in das zuvor unberührte Weiß des Blattes. Wie können daher Zeichnungen - und eben dies legt die Überschrift dieses Textes nahe - als „offen“ und zugleich als prozesshaft („werdend“) charakterisiert werden?
Ein solches Problem der Logik existiert nur jenseits der Wahrnehmung, mag man erwidern. Es wäre, so besehen, bloß ein theoretisches Problem. Doch sollte man die theoretischen Einwände nicht allzu eilig verwerfen und zum sinnlichen Genuss übergehen. Angemessener scheint es vielmehr, den Charakter jener Blätter von Thomas Müller, die auf den folgenden Seiten abgebildet sind, eingehender zu untersuchen, stellt doch die ästhetische Erfahrung eine Ausnahme unseres Wahrnehmungsalltags dar. Und eine Bedeutung - im wahrsten Sinne des Wortes - erlangt die ästhetische Betrachtung auch nur dann, wenn sie sich als anschauliche Erkenntnis erweist.

Wo und wie also beginnen? Beim Künstler, dem Urheber der Zeichnungen? Hierzu mögen die folgenden Informationen genügen:
Thomas Müller wurde 1959 in Frankfurt a.M. geboren und lebt seit vielen Jahren in Stuttgart, wo er auch bildende Kunst und Germanistik studiert hat. Sein künstlerisches Schaffen erstreckt sich sowohl auf die Malerei als auf die Druckgraphik, auf einige plastische Arbeiten und nicht zuletzt auch auf die Zeichnung. Den Stellenwert der Zeichnung im Rahmen seines Werkes hat Thomas Müller selbst als zentral beschrieben. Sie besitzt für ihn keine dienende Funktion, ist autonom. Insofern können Betrachtungen seiner Zeichnungen immer als generelle Aussagen zum künstlerischen Ansatz von Thomas Müller verstanden werden. 
Diese mehr oder weniger biographisch begründeten Aspekte mögen interessant sein, wenn man den Arbeiten einen kunsthistorischen Ort zuweisen möchte. Jedoch fügen sie dem anschaulichen Verständnis der Blätter nichts hinzu; deren Eigenarten aber sind es, die im Zentrum dieses Buches stehen. Nichts liegt folglich näher, als langsam durch die Abbildungsseiten zu blättern, dann zum Text zurückzukehren und sich schließlich über die Schrift hinaus noch einmal den Abbildungen zu widmen. 

Was zeigen die Abbildungen? Wie so oft in der Kunst, gibt es darauf keine einfache Antwort. Titel helfen nicht, denn es ist auf sie verzichtet worden. Begnügen wir uns deshalb zunächst via negationis mit dem Hinweis auf eine auf den ersten Blick nicht entziffer- oder lesbare Bildsprache. Das Wiedererkennen von Etwas versagt vor der zuvor unbekannten Sichtbarkeit. Es handelt sich um eine Konfiguration, die sich das Auge erarbeiten muss, die einen Anspruch an den Betrachter stellt. Diesem begegnet eine offenbar nicht geplante, und wohl auch unplanbare Bildlichkeit, die sich aus dem unsystematischen Verlauf von Linien ergibt. Diese Bildlichkeit erweist sich dabei als eine mehr oder minder spontane, aber keineswegs wirklich expressive Struktur, deren Plausibilität im zufälligen Gelingen zu liegen scheint. - So weit mag eine erste, allgemeine Beschreibung den Rahmen abstecken. Doch da diese Charakterisierung für nahezu alle Zeichnungen von Thomas Müller zutreffen mag, betrachten wir die für dieses Buch ausgewählten dreißig Zeichnungen näher. 
Was hat es mit den Blättern auf sich? Die Angaben belegen, dass sie fast durchweg im Jahr 1999 entstanden sind. Früher datieren lediglich Abbildungen der Seiten 24 (1998) und 40 (1997). Im Unterschied zu den Arbeiten im 1999 publizierten Buch mit dem bezeichnenden Titel „Disparates“, bei denen man in einem anderen Kontext eventuell sogar unterschiedliche Urheber vermuten könnte, erscheint die Auswahl der Arbeiten hier zusammenhängender. Und dies hat nicht allein damit zu tun, dass alle Blätter dieselbe Grösse von 29,7 x 21 cm (DIN A 4-Format) besitzen, was Rückschlüsse auf einen gemeinsamen Entstehungszusammenhang erlaubt. Wenngleich jede Abbildung einzeln zu betrachten ist und somit einen individuellen Anspruch besitzt, dementsprechend also jeweils eigene Zuwendung verlangt, scheinen die unterschiedlichen Zeichnungen doch aufeinander zu verweisen. Sie bilden - so der erste Eindruck des konzentrierten, langsamen Blätterns - ein Geflecht von Bezügen aus, indem sie doch aufeinander zu antworten scheinen. Heuristisch ließe sich dieser Zusammenhang als eine Art der Familienähnlichkeit beschreiben.
Doch worin besteht diese „Familienähnlichkeit“, der visuelle Dialog zwischen den doch so verschiedenartigen Blättern? Der innere Zusammenhang zwischen den hier zu sehenden Arbeiten von Thomas Müller resultiert aus der Darstellungsweise, dem gestalterischen Prinzip einer offenen Bildanlage, welche sich ihrerseits u.a. in der Linienführung, dem Umgang mit der Fläche, der Aufteilung des vertikalen Formates sowie der Selbstbezüglichkeit der Zeichnungen zeigt. Man beachte etwa in diesem Zusammenhang den niemals geometrisch angelegten Verlauf der Linien, die dem Auge ebensowenig Sicherheit bieten wie die flächigen Partien, welche sich in einigen Blättern finden (vgl.S. 21 oder 30) und gleichfalls nicht wie Resultate einer architektonischen Konstruktion ruhen. Dies führt nicht zuletzt dazu, dass die Bildstruktur der Zeichnungen von Thomas Müller vorendgültig erscheint.
Eine strukturell ähnliche Beobachtung lässt sich auf der Ebene der zeichnerischen Technik und im Blick auf die verwendeten Materialien machen. Thomas Müller hat sich bei den hier abgebildeten Zeichnungen der Kreide, dem Bleistift, der Tusche, der Öl- und Acrylfarbe oder gar des Klebestiftes bedient und dabei häufig verschiedene Materialien auf einem Blatt miteinander in Beziehung gesetzt. So kommt es zu unterschiedlichen Eigenarten der Zeichnungen, die zwischen Dunkelheit und einer Helligkeit, welche sich aus dem Zusammenspiel von Linienstruktur und Papiergrund ergibt, oder auch zwischen Farbigkeit und Schwarz-Weiß wechseln. 
Im Blick auf die gestalterischen Besonderheiten sei beispielhaft auch auf die Seiten 35 und 43 verwiesen. Dort ist der Vorgang des Überdeckens erkennbar, der aus einer Negation, einem Übermalen der Linie mittels weisser Acryl- bzw. Ölfarbe hervorgeht. Das Verdeckte bleibt hier offensichtlich, insofern es als schwarze Linienstruktur durch die weiße Farbe noch hindurchscheint, so dass sich als Resultat der Mischung ein unsauberer Grauton ergibt. Mag dieses ebenso helle, da den Papierton überstrahlende, aber doch verschmutzte Weiss auch wie ein nur vorläufiger Zustand erscheinen, so bleibt doch ein Vorgang der Negation unübersehbar, welcher die Stabilität der Setzung in Frage stellt.
Der Reiz des Zusammenspiels verschiedener zeichnerischer Mittel - lediglich drei Blätter (vgl. S. 36 und 37 sowie 47) beschränken sich auf eine Linien- bzw. Flächenform - offenbart sich auch an anderer Stelle, wenn z.B. Kreide und Bleistift aufeinander anspielen und sich zugleich voneinander abgrenzen. Sehr eindrucksvoll geschieht dies in der Abbildung auf Seite 34, wo die feinen Bleistiftlinien auf die fetten Kreidestriche formal reagieren und in einer anderen visuellen Geschwindigkeit wie eine spannungsvolle Antwort auftreten. Anders verhält es sich bei Abbildung auf Seite 26, wo die Kreidelinien das Blatt schräg durchlaufen und sich über die verdichteten Bleistiftlinien legen, die so eine weitere räumliche Ebene ausbilden. Und eine abermals neue Verbindung von Bleistift und Kreide zeigt das gegenüberliegende Blatt (S. 27), wo sich schlanke Verlaufslinien und dunkle, gestrichelte Andeutungen tendenziell aufeinander beziehen, um sich gleichfalls voneinander abzugrenzen.
Gerade vor dem Hintergrund der Vielfalt der zeichnerischen Techniken in den ausgewählten Arbeiten von Thomas Müller könnte man sogar die Frage aufwerfen, inwieweit der klassische Begriff der „Zeichnung“ als eine übergreifende Kategorie überhaupt angemessen ist. Greift der Gattungsbegriff hier nicht zu kurz? - Vielleicht aber manövriert sich das kategoriale Denken hier selbst in eine Sackgasse, denn gerade unter dem Horizont der Moderne ist die Erfahrung der Veränderung und Transformation des begrifflich Vorgewussten charakteristisch für die Auseinandersetzung mit neuer Kunst.
Kehren wir noch einmal zurück zum Aspekt des Vorendgültigen und betrachten dahingehend die Bildstruktur bzw. die zeichnerische Komposition. Während die bildliche Anordnung der Linien in vielen Zeichnungen auf das rechteckige Format Bezug zu nehmen scheint, paart sich diese Anmutung bei einigen anderen Arbeiten (vgl S.17 und 39) mit einem ausschnitthaften Charakter des Blattes. Auch in dieser Hinsicht also können die Zeichnungen Eigenschaften des Unvollendeten, des „non-finito“, besitzen. Dem entspricht auch der vermeintlich unperfekte Zustand der Blätter, die bisweilen Schmutzspuren oder Verwischungen aufweisen (vgl. S. 18 und 23) und damit gar nicht den klassischen Idealen des perfekten „Meisterwerkes“ ähneln. Diese Details unterstreichen vielmehr den Eindruck einer ungeplanten, zufälligen Entstehung. Will man für diese Beobachtungen die klassischen Kategorien der Zeichenkunst verwenden, dann müsste man wohl vom Charakter einer Studie sprechen. Nichtsdestotrotz vermitteln die Zeichnungen dem Betrachter ganz augenscheinlich aber auch nicht den Eindruck, als seien sie unfertig. Vielmehr ist es so, dass sich Offenheit der bildlichen Struktur und Vollendung des Werkes wechselseitig als Qualitäten von Thomas Müllers Zeichnungen bedingen. Bedeutet das Zeichnen - wie eingangs erläutert - per se eine Entschiedenheit, so ist diese hier paradoxerweise verbunden mit einer künstlerischen Zurückhaltung. Im Bewusstsein des Risikos des künstlerischen Schaffens schliesst sich das einzelne Blatt nie monadisch im Stile eines „letzten Bild“ ab, sondern verweist in seiner Offenheit auf einen prinzipiell unabschliessbaren, fragmentarischen Kosmos, in dem das vermeintlich unvollständige Bild auf anderes verweist, scheinbar wie von selbst neue Sichtbarkeiten generiert. Eben daraus resultiert jener Eindruck des Zusammenhang der verschiedenen Zeichnungen miteinander, der oben als „Familienähnlichkeit“ angesprochen wurde.
All dies trägt bei zu einer ästhetischen Grundstimmung, die man analog vielleicht auch mit dem Begriff des „Poetischen“ umschreiben kann. Obgleich dieses Buch keinen Text des Künstlers enthält und auch die Bilder keine narrativen Elemente besitzen, wird eine Nähe zum Literarischen spürbar. Diese strukturelle Verwandtschaft, Thomas Müllers Nähe zum Modus der Literatur ist realiter vorhanden und so mag es kaum verwundern, dass ein so offener Geist in einem früheren Buch (vgl. Thomas Müller, Zeichnungen 1994-1996, hrsg. v. Wolfgang Erk, Stuttgart 1996) selbst auf Parallelen bei Paul Valéry, Durs Grünbein, Georg Büchner, Novalis, Fernando Pessoa oder Francis Ponge hingewiesen hat. 

Doch wie kann man diese vielfältigen Beobachtungen zum Charakter der Zeichnungen nun inhaltlich verstehen? Diese Frage mag sich nicht zwingend stellen, hat sich doch in den Analysen zur Kunst eine rein deskriptive Sichtweise eingebürgert. Bei Thomas Müller allerdings greift dies zu kurz, denn es geht um mehr als um formalistisch zu bewertende Exerzitien, um Spielereien. Zwar meinen seine Blätter nichts außer sich selbst, aber gerade aus dieser Identität erwächst ihre inhaltliche Dimension, die den Betrachter fast wie bei einem Portrait zur Konzentration auf den Charakter des Blattes, und - im Unterschied zum Blick auf einen Dargestellten - auf sich selbst wirft.
Franz Joseph van der Grinten hat in einem früheren Beitrag über den Künstler auf die besondere Bedeutung des Organischen, Naturhaften hingewiesen. Und in der Tat kann man die gemachten Beobachtungen zur Bildentstehung und Offenheit der Bildstruktur in Analogie oder gar als zeichnerische Verkörperungen dieses thematischen Horizontes sehen. Das einzelne Blatt erscheint ebenso bestimmt wie es eine anschauliche Entwicklungsperspektive erst eröffnet. Das Sehen beschränkt sich damit nicht auf das Sichtbare allein, sondern sieht sich durch dieses dazu aufgefordert, die im Alltag ansonsten selten geforderte Vorstellungskraft, also ein inneres Sehen, zu aktivieren. Die Zeichnung endet insofern nicht auf dem Papier. Mit dieser Aktivierung des schöpferischen Potentials des Betrachters ist dieser zugleich als Individuum gemeint und - was ebenfalls im Alltag ungewöhnlich ist - auch in seiner produktiven Teilhabe gefordert. In diesem Sinne stellt auch dieser Text nur eine Variante der Beschäftigung mit den Zeichnungen dar. Sich selbst zu transzendieren und zum eigenständigen Sehen anzuregen, müsste sein Ziel sein.
Einhergehend mit der bildlichen Aktivierung der Vorstellungskraft des Betrachters ist auch das Moment der Prozessualität angesprochen. Von ihr ist in zweierlei Hinsicht zu reden: der Betrachter kann die vorausgegangene zeichnerische Handlung anschaulich nachvollziehen, während überdies der innere Blick über das Vorhandene hinausgeführt wird. In Kategorien der Grammatik gesprochen, könnte man auch von der Modalform des Konjunktivs und Zeitform des Präteritums sowie des Futurs sprechen. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass die Charakteristika der Offenheit und der Prozessualität sich bei Thomas Müller ergänzen und sogar als zwei Seiten einer Medaille erscheinen. 

Zurück zu den Seiten des vorliegenden Buches. Wenn vom offenen wie prozessualen Charakter der Zeichnungen von Thomas Müller die Rede war, so reflektiert sich dieses Prinzip auch in der Auswahl und der Abfolge der Abbildungen der folgenden Seiten: gespannt kann man hindurchblättern, ohne zu wissen was kommt. Durch offenkundige Paarbildungen aus (vgl. Abb. Auf S. 22 + 23, 32 + 33. 36 + 37, 44 + 45) bilden sich Rhythmen aus, die aber auch von scheinbar dissonanten Gegenüberstellungen durchkreuzt werden (vgl. Abb.auf S. 30 + 31, 34 + 35, 40 + 41). Nachdem bereits vom Poetischen die Rede war, darf man in dieser Hinsicht auch die Metapher des Musikalischen zur Charakterisierung heranziehen.
Insgesamt offenbart sich in der Wahl der Abbildungen eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Medium des Buches. Aus einer grossen Zahl von Zeichnungen hat Thomas Müller dreissig Blätter ausgewählt und zu einer vorher nicht festliegenden, vielstimmigen Einheit komponiert. Selbst wenn es sich hier nicht wirklich um ein „Künstlerbuch“ handelt, mag in der ebenso intimen wie vielstimmigen Form der Begegnung die alte Idee des Gesamtkunstwerkes wiederaufscheinen. Im selben Material - dem Papier - liefert das Buch dem Betrachter eine Vision jener originalen Blätter, deren leibhaftige Erfahrung die Druckfassung nicht ersetzen kann. Thomas Müller geht es bei diesem Buch mithin darum, den Eindruck des Zeichnerischen mit den Besonderheiten des Buches zu einer neuen Qualität zu verbinden. Anders als in der Form des Künstlerbuches, indem Bild und Schrift miteinander einen Dialog eingehen, besteht die gemeinte Qualität hier in der Auswahl und Zusammenstellung der verschiedenen Blätter, die den Charakter der Offenheit der Zeichnungen von Thomas Müller akzentuieren und so dem Betrachter in einer neuen Form erfahrbar machen.

© Stefan Gronert